Löscht mich hier raus, ich bin nur ein Nutzer

Vergessen, so erklärt es das digitale Nachschlagewerk Wikipedia, ist gemeinhin das Verschwinden von im Gehirn gespeicherten Informationen. Ausschlaggebend hierbei sind unter anderem das Interesse und die Wichtigkeit der Informationen. Doch für das virtuelle Gedächtnis der Menschen, das Internet, ist offensichtlich jedes Bit von immenser Bedeutung. Nichts wird vergessen. Sukzessive wird unser Denken und unsere Verantwortung ausgelagert: Flickr verwaltet meine Schnappschüsse, Amazon weiß, was ich unbedingt lesen möchte und empfiehlt mir gleich noch den Film, den ich im Kino verpasst habe. Linkedin lädt mich auf ein Bier in meine Stammkneipe ein und MySpace begleitet mich zu Konzerten. Groupon weiß, dass ich heute Lust auf Pizza habe, weil der Italiener an der Ecke ein Sonderangebot bereit hält und ITA bucht meinen Urlaub. Ich erwarte demnächst ein umweltschonend konzipiertes und nachhaltig geborenes Baby, da ich kürzlich auf Verivox.de nach grünen Versorgern gesucht und meiner Nichte online ein Mützchen für ihre Tochter bestellt habe. Es wird übrigens Bing heißen und statt Mama und Papa zu sagen, lernt es zwitschern. Der Name seines ersten Freundes? Tom natürlich!

Löscht mich hier raus, ich bin nur ein Nutzer.

In den 3,5 Jahren seit Yasni online gegangen ist wurden über 100.000 Support-Anfragen bearbeitet. Die Löschung einzelner Ergebnisse oder deren Aktualisierung bis hin zur Entfernung aller Ergebnisse zu einer Person stehen mit 36,1 % oder ca. 37.500 Anfragen ganz oben auf der Wunschliste der Nutzer: So stellte der mitten im Examen steckende Student plötzlich fest, dass Personalchefs auf zwar alte, aber offensichtlich aufschlussreiche Anfragen gestoßen waren, die einem Bewerbungsgespräch entgegenstanden. Grund des Misstrauens waren Bitten des damals noch auf ein Gymnasium gehenden Prüflings nach der Adresse eines günstigen und qualitativ hochwertigen Coffee-Shops in Amsterdam. Schließlich sollte die Abiturfahrt eine bleibende Erinnerung hinterlassen. Doch damit nicht genug. Da die Kaffeehäuser in Deutschland ein geringeres Warenangebot als die in Amsterdam vorzuweisen haben, war auch das Interesse an Tipps und Ratschlägen, wie man die erworbenen Rauschmittel möglichst unentdeckt bis zu den Freunden in die Heimat transportieren könnte, groß. Schlussendlich wurde noch um Informationen zu den marktüblichen deutschen Preisen gebeten, um gegebenenfalls weitere Fahrten günstig gegenfinanzieren zu können. Eingetragen und unterschrieben wurde stets mit Realnamen, weswegen andere Teilnehmer in ihren Antworten freundlicherweise recht diffus blieben.

Andere Nutzer hingegen sehen in Yasni wohl einen sektiererischen Geheimbund mit dem Ziel, die Weltherrschaft an sich zu reißen: Die oft gleichförmigen Informationen zu den rechtlichen Grundlagen dienen Willensmanipulation und Suggestion unschuldiger Nutzer, so der Vorwurf. Offensichtliche Verschwörungspläne werden bagatellisiert und geleugnet. Sollte das Opfer trotzdem nicht nachgeben, würde Yasni Nutzer durch aggressive, beleidigende oder spöttische Antworten verunsichern und mundtot machen. Eine Auseinandersetzung ist also von vorn herein zum Scheitern verurteilt. Nur über Justiz und Presse kann daher der Kontakt zu Yasni gewagt werden. Auch auf die Gefahr hin, dass die folgende Erwiderung spöttisch erscheinen mag und damit vielleicht Vorurteile bestätigt: Testen Sie unser Support-Team. Wir bemühen uns im Falle konkreter Anfragen, um rasche, freundliche und kompetente Hilfe, auf Wunsch auch kreativ und spannend formuliert.

Dem ungeteilten Mitteilungsbedürfnis und der voyeuristischen Neugier der Netzgemeinde fehlt scheinbar das Verständnis, dass ein Blog, Gästebuch oder Wunschliste eben keine Pausengespräche oder Stammtischplaudereien sind. Jeder bissiger Kommentar wird tausendfach kommentiert, weitergetragen, missbraucht, uminterpretiert und erscheint irgendwann im Zusammenhang mit einer südostasiatischen Kinderpornoseite oder einem rassischen Informationsnetzwerk. Verblüffend und vor allem ärgerlich. Dabei liegt das Interesse überhaupt nicht auffindbar zu sein mit 13,6 Prozent aller Anfragen nur wenig hinter dem Wunsch, bestimmte Links entfernen zu lassen (16,3 Prozent). Gerichtliche Auseinandersetzungen und Stalking machen lediglich ein Prozent der Supportmails aus und auch grobe Beschimpfungen verschwinden dankenswerterweise mit 0,1 Prozent aller Mails in der Masse sachlicher Anfragen.

Doch gibt es überhaupt Möglichkeiten, sich gegen die jeden Lebens- und Arbeitsbereich erobernde Digitalisierung zu wehren? Wollen wir das überhaupt oder ergeben wir uns lieber der Technik und speichern unser Leben in einer Google-Cloud? Anzeigenumsorgt, informationsoptimiert und hoffentlich serverausfallgesichert? Oder geben wir unsere Verantwortung ab? Überlassen wir staatlichen Behörden die Regulierung unserer Erinnerung in der Hoffnung auf eine sicheren Verwahrung? Müssen wir nicht viel mehr selbst einen emanzipierten Umgang mit der schönen neuen Welt lernen und aktiv Verantwortung übernehmen, wenn es darum geht, unsere digitale Persönlichkeit zu schützen?

6 Gedanken zu „Löscht mich hier raus, ich bin nur ein Nutzer“

  1. Was für ein Artikel, gratuliere.!

    Ja, „selbst ist der man/frau“ haben schon unsere Vorfahren gemeint. Damals gab es nicht mal etwas digitales.

    Schade eigentlich, sehr schade…

    Ich nehme fest an, sie wären darüber sehr froh gewesen und hätten uns bestimmt noch treffendere, hilfreiche und nachdenkenswerte Weisheiten hinterlassen, die wir auf unseren Seiten und Profilen mit Freude zitieren könnten.

    Liebe Grüsse

    Tedora

  2. Das würde nur funktionieren, wenn unsere Vorfahren nur Weisheiten von sich gegeben hätten…
    Aber auch damals werden die Alltagsprobleme – wenn auch sicher andere als heute – die Kommunikation dominiert haben.

    Viele Grüße

    Jenny Florstedt

  3. Hat wirklich Jenny Florstedt kommentiert? Ich vermisse etwas wie ein Hut oder so…

    Jenny: Echt nur mit Hut, yep :-))

    PS: sorry Jenny, man/frau wird langsam paranoid, sieht hinter allem eine Verschwörung;-)

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